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Titel
Visualization and Interpretation. Humanistic Approaches to Display


Autor(en)
Drucker, Johanna
Erschienen
Cambridge, MA 2020: The MIT Press
Anzahl Seiten
204 S.
Preis
$ 30.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrike Felsing, Institute of Design Research (Bereich Knowledge Visualization), Hochschule der Künste Bern

Seit den 1990er-Jahren kommt Bildern im Zuge des „Iconic Turn“ der „Pictorial Turn“ auch in den sonst eher sprachzentrierten Natur- und Geisteswissenschaften eine verstärkte Aufmerksamkeit zu. Die Wende zum Bild wird vor allem durch technologische Veränderungen bestimmt, insbesondere durch die Digitaltechniken, dank derer neue bildgebende Verfahren in der Medizin (z.B. Computertomographie seit den 1970er-Jahren) oder der Naturwissenschaft (z.B. Rasterelektronenmikroskopie vor allem seit den 1960er-Jahren) möglich wurden. Aufgrund dieser Verfahren, die als eigenständige Formen der Sichtbarmachung1 verstanden werden können, da sie nicht nur bestehendes Wissen illustrieren, rücken Fragen der Manipulation und Konstruktion von Repräsentationen verstärkt in den Blick.

Wissensbilder – in Abgrenzung zu Bildern der Kunst2 – wurden bisher aus einer allgemeinen Perspektive untersucht3 oder in Bezug auf Darstellungen der Naturwissenschaften4, jedoch noch kaum für die spezifischen Bedürfnisse der Geisteswissenschaften. Johanna Druckers Studie „Visualization and Interpretation“ bildet hier eine Ausnahme5, denn sie nimmt eine Perspektive ein, „die von interpretativen Praktiken (kritische Hermeneutik) und konstruktivistischen Ansätzen zur Erkenntnistheorie geprägt ist“ (S. 3; meine Übersetzung). Druckers besonderes Verdienst liegt in der kontinuierlichen Befragung und Entwicklung adäquater Visualisierungsmethoden für die Digital Humanities seit etwa 20 Jahren. In ihren Untersuchungen beschränkt sie sich nicht auf die Analyse von kritischen Theorien, Quellen zur Ästhetik sowie formalen Studien grafischer Systeme. Vielmehr erarbeitet sie die Charakteristika einer spezifisch geisteswissenschaftlichen visuellen Epistemologie auch im Zusammenhang mit anwendungsorientierten Projekten wie etwa „3DH-Visualisierung“ und „CATMA“.6 Ihre eigenständige, gestalterische Vorgehensweise zeigt sich zudem in den zahlreichen, handgezeichneten Skizzen, mit denen sie ihre Überlegungen veranschaulicht.

Zu Beginn ihrer Studie diskutiert Drucker die visuelle Wissensproduktion und die Spezifika grafischer Verfahren, insbesondere derer, die den interpretativen Ansatz der digitalen Geisteswissenschaften unterstützen. Dabei arbeitet sie die Besonderheiten visueller Darstellungen gegenüber Texten und ihre Bedeutung für den „Fortschritt der Wissenschaft“ (S. 27) heraus. Diese reichen in ihren Grundfragen der „visuellen Wissensproduktion“ weit vor die Digitalisierung und Computerisierung zurück. Das zentrale Merkmal von „Wissensvisualisierungen“ ist ihre Präzision, die sich aus der Reduktion der grafischen Elemente ergibt, aber auch aus der exakten Reproduzierbarkeit durch den Druck, wie die Autorin mit Bezugnahme auf William M. Ivins' Werk „Prints and Visual Communication“ (1953) festhält.

In Kapitel 2, „Interpretation as Probabilistic: Showing How a Text Is Made by Reading“ befasst sich Drucker mit der Definition der spezifischen Parameter des Wissensansatzes der Humanities, bei dem Erkenntnisse nicht schlechthin objektiv, sondern stets partiell und situiert sind. Dabei berücksichtigt sie auch ästhetische Fragen, die in naturwissenschaftlicher Perspektive meist nur marginal behandelt werden. Im dritten Kapitel, „Graphic Arguments: Nonrepresentational Approaches to Modeling Interpretation“, schlägt sie einen eigenen, nicht-repräsentativen Ansatz für grafische Interpretationsmethoden und visuelle Rhetorik vor. Ihr Ziel ist es, Konventionen zu entwickeln, mit denen die Deutungsarbeit in grafische Bilder übersetzt werden kann. Dabei soll das Visuelle selbst als primäres Interpretationsinstrument dienen. In „Interface and Enunciation, or, Who Is Speaking?“ (Kapitel 4) skizziert Drucker Ansätze der Sprechakttheorie und leitet daraus die Forderung ab, auch in Wissensgrafiken und bei Interface-Werkzeugen eine Autorenposition deutlich zu machen. Sie kritisiert die vermeintliche „Kontrolle“ (S. 109), die Interface-Nutzenden gegeben wird, wenn sie die Präsentationsparameter von Daten beeinflussen können, etwa mittels Navigationswerkzeugen, Filtern oder Zoom. Den Abschluss ihrer Studie bilden konkrete Überlegungen zur Modellierung von Interpretationen, unter der prägnanten Frage „Can We Make Arguments Visually?“ (Kapitel 5). Hier werden die zentralen Visualisierungsproblematiken der Geisteswissenschaften präsentiert: Zeitlichkeit, räumliche Relationen und Datenanalyse.

Das Buch vertieft mehrere Konzepte, die die Autorin bereits in früheren Aufsätzen skizziert hat, besonders in „Humanities Approaches to Graphical Display“ (2011).7 Der in „Visualization and Interpretation“ diskutierte Begriff „capta“ soll den Einfluss der Beobachtenden auf das Beobachtete verdeutlichen: „Daten“ (lat. „das Gegebene“) werden stets aktiv hergestellt und dabei interpretiert (S. 53). Der konstruktivistische Ansatz schließt auch den zu erforschenden Ort ein, der aus der Relation zwischen Forschenden, Gegenständen und materiellen Bedingungen hergestellt wird. So wendet sich Drucker gegen den Mythos vom unschuldigen, unwissenden Auge („innocent eye“, S. 528) und vom absolut Gegebenen, das unabhängig von der Beobachtersituation, den Beobachtenden existiert und frei von Intentionen ist.

Darstellungen, die aus einem primären Akt der Wissensproduktion hervorgehen, bezeichnet Drucker als „nicht-repräsentativ“ (S. 69), wodurch ebenfalls der Konstruktionscharakter der Interpretation hervorgehoben wird. Solche Visualisierungen haben keine Abbildfunktion und sollten nicht als „Übersetzungen“, sondern als eigenständige Wissensform gelten. Als Beispiel führt die Autorin eine „architektonische Skizze“ an, die „das Bild eines Gebäudes hervorbringt“, oder „ein geometrisches Diagramm“, das „einen Beweis“ erbringt (S. 12).

Insgesamt entwirft Drucker eine Gegenposition zur positivistischen Wissenschaftshaltung, die Visualisierungen mit der Realität gleichsetzt, als ob es sich um bloß beschreibende oder wiedergebende Darstellungen handeln würde. Stattdessen, so ihre Forderung, sollten in den Darstellungen Subjektivität, qualitative Bewertung und ein individueller Standpunkt der Forschenden sowie Mehrdeutigkeit und Brüche sichtbar gemacht werden. Besonders in der Visualisierung von „ambiguity and uncertainty“ (S. 65) bestehe eine zentrale Aufgabe der Digital Humanities. Dabei unterscheidet Drucker die nuancierte Informationsdarstellung, wie sie etwa in konventionellen Karten zu finden ist, von der Herstellung grundlegend kritischer, nicht-standardisierter Karten, die die Konstruiertheit des Raumes ausdrücken. Ihre fundamentale Kritik wendet sich gegen standardisierte Metriken und das kartesische Koordinatensystem, das alle Informationen in konventionellen Grafiken auf konstitutive Weise prägt. Eine Sichtbarmachung dieser grundlegenden Bedingungen ist besonders interessant, da es sich hierbei um implizite Voraussetzungen der Produktion und Rezeption von Wissen handelt, wie die Autorin betont (S. 10).

Ihr eigenes Gestaltungssystem entwickelt Drucker unter anderem auf der Grundlage der grafischen Variablen von Jacques Bertin (Größe, Helligkeitswert, Textur, Farbe, Richtung und Form, S. 84; ohne aber die Ebenendimensionen X- und Y-Achse zu übernehmen9). Diese Variablen ergänzt sie um dynamische Elemente zur Animation, etwa die Änderung der Größe, Position, Ausrichtung, Geschwindigkeit. Weitere Elemente gewinnt sie aus den „physics engines“ der Computerarchitektur und von Animationsprogrammen, zum Beispiel die Operatoren „impact, repulsion, attraction, torque, weight, force“ (S. 135), mit denen Assoziationen bei den Interface-Nutzenden geweckt werden sollen. Hiermit möchte Drucker nicht nur die Wirkung der visuellen Argumentation verstärken, sondern sie noch um affektive Qualitäten erweitern (wie „comfort, pleasantness, cold, fear, anxiety“; ebd.). Die anhand dieser Gestaltungsprinzipien erarbeiteten Projekte, so lässt sich zusammenfassen, sind durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Sie nutzen affektbezogene und nicht-standardisierte Metriken sowie einen nicht-repräsentativen Ansatz. Dabei zeigen sie den eingenommenen Standpunkt der Forschenden an. Außerdem sind sie stets interaktiv, verwenden visuelle Bedienelemente und lassen sich als Anzeigeformate für bereits strukturierte Daten oder Markup verwenden.

Ein Kritikpunkt an dem Buch ist, dass die Autorin manchmal etwas assoziativ schreibt und dabei ihre zentralen Fragen aus dem Blick verliert. Sehr anregend hingegen ist ihre nachdrückliche Kritik an der „Grammatik“ der Wissensproduktion, wie dem kartesischen Raster, das impliziert, dass Raum und Zeit sich überall gleichmäßig erstrecken. Dies steht im Gegensatz zur individuellen Erfahrung, etwa zu erlebten Distanzen und Reisezeiten, wie Druckers Beispiel des Londoner Tube Map Tool von Tom Carden zeigt.10 Die scheinbare Verkürzung bzw. Ausdehnung des Raumes wird hier mittels proportionaler Deformationen des Streckenliniennetzes visualisiert, die separat ansteuerbar sind. In meinen Augen bietet die vergleichende Gegenüberstellung individueller Erlebensperspektiven eine überzeugende, wenn auch implizite Kritik am regelmäßig konzipierten, kartesischen Raster, zumal die Grammatik der Visualisierung erhalten bleibt und die individuelle Erfahrung damit überhaupt lesbar wird. Hingegen ist die Verzerrung des Koordinatensystems (wie in Fig. 13, S. 156) nur willkürlich, da sie nicht proportional aus subjektiven Parametern (wie etwa Reisezeiten) generiert wurde. Diese Art Kritik vermag die konstitutive Bedeutung des Rasters keineswegs in Frage zu stellen. Für die Erforschung der Grammatik der Wissensgrafiken wie auch für eigenständige Visualisierungen als Teil der geisteswissenschaftlichen Praxis hat Johanna Drucker ein großes Potential erarbeitet, das in Zukunft noch ausgeschöpft werden kann und muss.

Anmerkungen:
1 Hans-Jörg Rheinberger, Objekt und Repräsentation, in: Bettina Heintz / Jörg Huber (Hrsg.), Mit dem Auge denken. Strategien der Sichtbarmachung in wissenschaftlichen und virtuellen Welten, Zürich 2001, S. 55–61; ders., Sichtbarmachung / Visualisierung, in: Horst Bredekamp / Birgit Schneider / Vera Dünkel (Hrsg.), Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, Berlin 2012, S. 132–135.
2 Gottfried Boehm, Zwischen Auge und Hand. Bilder als Instrumente der Erkenntnis, in: Jörg Huber / Martin Heller (Hrsg.), Konstruktionen Sichtbarkeiten, Zürich 1999, S. 215–227.
3 Markus Lohoff, Wissenschaft im Bild. Performative Aspekte des Bildes in Prozessen wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung und -vermittlung, phil. Diss. Technische Hochschule Aachen 2007, https://publications.rwth-aachen.de/record/49924 (27.05.2022).
4 Lorraine Daston / Peter Galison, Objektivität. Aus dem Amerikanischen von Christa Krüger, Frankfurt am Main 2007.
5 Anknüpfend auch an ihre früheren Arbeiten, u.a. Johanna Drucker, Graphesis. Visual Forms of Knowledge Production, Cambridge 2014.
6 Drucker arbeitete 2016 in der 3DH-Forschungsgruppe der Universität Hamburg an Methoden für die dreidimensionale Datenvisualisierung für Digital-Humanities­Forschungen (Dokumentation: https://pages.gseis.ucla.edu/faculty/drucker/3DH_Gallery/Text_3DH_Gallery.html, 27.05.2022). Weiterhin arbeitete sie an der Entwicklung des Computerprogramms CATMA mit (Computer Assisted Text Markup and Analysis), das die kollaborative Analyse und Annotation von Texten mittels Visualisierungen unterstützt.
7 Johanna Drucker, Humanities Approaches to Graphical Display, in: Digital Humanities Quarterly 5 (2011), no. 1, http://www.digitalhumanities.org/dhq/vol/5/1/000091/000091.html (27.05.2022).
8 Mit Rekurs auf Ernst Gombrich, Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation, London 1960 (und öfter).
9 Jacques Bertin, Sémiologie graphique. Les diagrammes, les réseaux, les cartes, Paris 1967; dt.: Graphische Semiologie. Diagramme, Netze, Karten. Übersetzt und bearbeitet nach der 2. frz. Aufl. von Georg Jensch u.a., Berlin 1974.
10 Drucker, Humanities Approaches. Siehe auch das Map Tool von Tom Carden: http://www.tom-carden.co.uk/p5/tube_map_travel_times/applet/ (27.05.2022).

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